Ralph Hientzsch, Geschäftsführender Gesellschafter Consileon Frankfurt, über die Nachhaltigkeitsnotwendigkeiten der Versicherungsbranche
VERSICHERUNGSWIRTSCHAFT: Experten von der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften forderten in einem Interview mit der Versicherungswirtschaft die Branche zuletzt auf, mehr in Sachen Nachhaltigkeit zutun. Machen die Versicherer im Umkehrschluss zu wenig?
RALPH HIENTZSCH: Die Branche beschäftigt sich generell die letzten zwei bis drei Jahre mit dem Thema ESG wobei die Spannbreite aus unserer Einschätzung in der Assekuranz sehr groß ist. Einige Versicherer sind schon seit Längerem mit großen Initiativen dabei, andere haben sich noch sehr wenig mit dem Thema auseinandergesetzt. Was häufig fehlt, ist eine echte Strategie, wie sich die Versicherer umfassend dem Thema Nachhaltigkeit stellen wollen. Die Assekuranz liegt sicherlich nicht hinter anderen Branchen, aber mehr geht immer.
Wo sehen Sie Nachholbedarf zur ESG-Erfüllung? Grundsätzlich stellt sich die Frage, an welchen Kriterien wir uns eigentlich orientieren? Zu erfüllen sind die Vorgaben der EU hinsichtlich der Transparenzverordnung und der Taxonomie. Von der UN werden die „Principles of Sustainable Insurance“ vorangetrieben. Namhafte große Versicherer gehören zusätzlich der „Net Zero Asset Owner Alliance“ an. Das sind drei von einer Vielzahl verschiedener Standards. Alle haben ihre Kriterien und alle sind gut und hilfreich. Daher müssen klare Indikatoren zur Messung der Nachhaltigkeitsziele identifiziert werden. Nachholbedarf besteht bei der Datenverfügbarkeit zur Messung von Impact und negativen Auswirkungen auf die Nachhaltigkeit; dies wird immer wieder von Versicherern angeführt.
Was springt Ihnen konkret ins Auge? Das beginnt beim Anlagemanagement und der Frage, welche Kriterien konkret in der Kapitalanlage erfüllt werden. Sind die notwendigen Daten vorhanden, um die ESG-Risiken vollständig im Risikocontrolling zu berücksichtigen? Ist der Vertrieb geschult und sind die Beratungsprozesse auf die neuen Anforderungen der Taxonomie ausgerichtet?
„Das Thema Greenwashing wird sicherlich auch vor der Versicherungsbranche nicht Halt machen.“
Nachhaltigkeit hat sich zum Lieblingsthema der Assekuranz entwickelt. Viele loben sich für ihre Erfolge. Wenige äußern sich kritisch zum Thema. Wie viel ist in der Ambition, grüner zu werden marketinggetrieben? Was ist ehrlich gemeint? Wichtig ist aus meiner Sicht, dass in der Praxis eine nachhaltige Geschäftsstrategie erarbeitet und umgesetzt wird. Die Motivation ist dann zweitrangig. In der Kapitalanlage werden – bedingt durch die Offenlegungsverordnung– mittlerweile eher realistische Ziele verfolgt, um bis 2050 z.B. CO2-neutral zu werden. Entscheidend ist vor allem anderen, was die Kunden wünschen und was von der Regulierung verlangt wird. Sowohl Kunden als auch Regulierung erwarten Anstrengungen zu mehr Nachhaltigkeit. Und die Versicherungsbranche hat auch ein großes Selbstinteresse, nachhaltig zu wirtschaften. Mit Blick auf zunehmende Schadenereignisse durch den Klimawandel ist sie ganz unmittelbar betroffen.
Im Banking-Sektor in den USA untersuchte die Börsenaufsicht den Nachhaltigkeitsfonds von Goldman Sachs wegen Greenwashing-Verdacht. Drohen der Assekuranz künftig ähnliche Fälle? Das Thema Greenwashing wird sicherlich auch vor der Versicherungsbranche nicht Halt machen. Insbesondere fondsbasierte Lebensversicherungen und Produkte, die auf „grüne“ Indizes referenzieren, haben dieselben Risiken wie die Fondsbranche. Bei der Einordnung von Kapitalanlagen hinsichtlich ESG-Kriterien gibt es gegenwärtig noch keinen Marktstandard. Eine Vielzahl verschiedener Konzepte existiert nebeneinander. Dabei nehmen die Ansprüche an ESG-konforme Anlagen ständig zu, die EU treibt da den Markt. Was gestern noch konform war, muss es morgen nicht mehr sein. Außerdem stehen gar nicht ausreichend viele Assets zur Verfügung, sodass alle Anleger ESG-konform investieren könnten. Die Versicherungsbranche ist einer der größten Investoren überhaupt, sowohl direkt als auch im Kundenauftrag. Ziel muss sein, dass klar kommuniziert wird, was und nach welchen Normen und Kriterien wie angelegt wird.
Wann ist ein Unternehmen eigentlich nachhaltig? Was sind die Erfolgsfaktoren aus Sicht eines Managementberaters? Versicherer benötigen eine Nachhaltigkeitsstrategie über die drei Komponenten E, S und G. Dies ist kein Projekt, das mit der Umsetzung einer Phase abgeschlossen ist, sondern ein Versicherer integriert das Thema und seine Entwicklungen in die Unternehmensstrategie. Neben dem E (Environment) steht das S (Social) bei dem es die soziale Komponente zu berücksichtigen gilt. Beim G (Government) liegt der Fokus auf der guten Unternehmensführung. Dabei ist der gute Umgang mit Partnern und Ressourcen nach innen und außen, aber auch mit den eigenen Mitarbeiter*Innen entscheidend. In einer guten Nachhaltigkeitsstrategie werden alle Facetten adressiert. Der Vorstand und Aufsichtsrat begleiten den Transformationsprozess intensiv. Aus der Transformation jedes Unternehmens gedacht, ist es die Herausforderung, die Entwicklungsetappen jedes Versicherers zu beschreiben und daraus abgeleitet das Gesamtprogramm zu strukturieren und agil zu managen. Die Nachhaltigkeitsstrategie steht also nicht neben der Strategie, sondern ist integrierter Bestandteil. Dies kann zu neuen KPIs auf der Top-Management-Ebene führen.
„Nachhaltigkeit starten und Kunden begeistern, sind das Gebot der Stunde.“
Die Taxonomie-Verordnung der EU sorgt für viel Zündstoff. Sie ist stolze 349 Seiten lang und fordert Unternehmen auf, ihre Prozesse stark umzustellen. Überfordert das die Branche? Die Assekuranz ist darauf so gut vorbereitet wie die anderen betroffenen Branchen auch. Mit der Taxonomie versucht die EU-Kommission den Green Deal Europas voranzutreiben und Kapitalströme in nachhaltige Aktivitäten zu lenken. Dabei ist die Verordnung mit rund 30 Seiten eher kurz, aber die viele Hundert Seiten langen Anhänge mit den technischen Bewertungskriterien und den Branchenspezifika machen daraus ein dickes Brett. Die Anstrengungen, die unternommen werden müssen, um Taxonomie-konform zu sein, sind erheblich. Digitalisierung und Nachhaltigkeit gehen zusammen, wenn es darum geht, ein Reporting-Konzept mit Kennzahlen auf Basis digitaler Prozesse umzusetzen. Es ist kein Problem der Unternehmensgröße, sondern vor allem des Management-Commitments, der Einstellung der Mitarbeiter zur Nachhaltigkeit sowie der Flexibilität und Effizienz der Prozesse. Der ein oder andere Versicherer ist sowohl operativ als auch strategisch mit dem Thema nahe der Überforderung.
Was sind die größten Brenn- oder Schmerzpunkte für die unternehmerische Praxis? Neben den internen Prozessen sind vor allem der Vertrieb und die Beratungsprozesse zum Kunden ein großes Thema. Die Informations- und Aufklärungspflichten gegenüber den Kunden haben nochmals zugenommen. Gerade im wichtigen Bereich der Altersvorsorge, da nachhaltige Anlageprodukte, die von Versicherungen vertrieben werden, unter die Taxonomie fallen. Im Gleichschritt entstehen damit neue Schulungsanforderungen und Dokumentationspflichten. Ein weiterer Brennpunkt ist die Einteilung des Betriebs in „wirtschaftliche Aktivitäten“ nach Taxonomie. Weiterhin kritisch ist die Verfügbarkeit der Messdaten aus dem Produktionsprozess sowie Definition und Verfügbarkeit von Schwellenwerten und die Ausweitung der Taxonomie auf alle Umwelt und Sozialen- und Unternehmensführungs-Ziele.
Seit August müssen Neukunden, die ein Altersvorsorgeprodukt abschließen wollen, gefragt werden, ob Nachhaltigkeit in ihrem Entscheidungsprozess wichtig ist oder nicht. Wie bewerten Sie das? Mit Sicherheit ein wichtiger Schritt, um das Thema stärker in den Köpfen der Kunden zu verankern. Für die Versicherungsbranche bedeutet dies, dass auf sie neue Aufklärungs-, Reporting- und Dokumentationsaufgaben zukommen. Denn was bedeutet es in der Praxis, wenn einem Kunden das Thema zwar wichtig ist, aber gleichzeitig die Performance oder Sicherheit der Kapitalanlage priorisiert wird. Die Ziele können, müssen aber nicht kompatibel sein – viele Kunden sind dann leicht überfordert und der Beratungsaufwand steigt signifikant. Ich bin sehr gespannt auf die konkrete Umsetzung der Häuser.
Über die Kosten spricht kaum jemand. Kann es sich jedes Versicherungsunternehmen leisten, den Schalter auf „grün“ umzulegen? Eine grünere Positionierung ist nicht umsonst zu haben. Jeder Versicherer wird seine individuelle Nachhaltigkeitsstrategie als Maßanzug entwickeln.
Wie kann dies gelingen? Mit einer Strategie, der notwendigen Einstellung und einem koordinierten Angang ist der erste Schritt gemacht. In einem Projekt lassen sich Synergien der Digitalisierung und der Nachhaltigkeit unter dem Stichwort Daten realisieren. Auf dem Weg zu mehr Nachhaltigkeit sollten die Mitarbeiter mitgenommen werden, das bedeutet Change Management und gut durchdachte Kommunikation nach innen und außen.
Wie sollten die Versicherer Schritt für Schritt in eine nachhaltige Zukunft vorgehen? Was sind Ihre Handlungsempfehlungen? Die ESG-Strategie erarbeiten und in kleinen, aber konsequenten Schritten langfristige Ziele verfolgen. Mitarbeiter, Kunden und alle Stakeholder kommunikativ mitnehmen und Greenwashing vermeiden. Wichtig dabei ist es, die Pflicht von der Kür zu trennen. An den regulatorischen Vorgaben, denen sich die Branche durch die Transparenzverordnung und die Taxonomie gegenübersieht, führt kein Weg vorbei. Diese Pflichtaufgaben müssen so gut und kostengünstig wie möglich gelöst werden, um sich auf die eigene Kür zu beziehen. Nachhaltigkeit starten und Kunden begeistern sind das Gebot der Stunde.
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